„Häufig geht es einfach nur um Liebe“

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Schulsozialarbeiter Michael Lehmann im MAZ-Interview über Gewalt unter Kindern

Kürzlich hat ein Video von prügelnden Mädchen für Erschrecken gesorgt. Im MAZ-Interview spricht Schulsozialarbeiter Michael Lehmann darüber, warum sich Jugendliche prügeln und welche Rolle Handys und das Internet dabei spielen.

MAZ: Herr Lehmann, haben Sie sich als Jugendlicher auch mal auf dem Schulhof gekloppt?
Lehmann: Das soll vorgekommen sein. Wenn Sie mich fragen, ob ich gemobbt habe, dann sage ich: Ja. Ich habe auch mal mitgemacht, wenn man in der Gruppe andere gehänselt oder geärgert hat.

Wieso das denn?
Lehmann: Jeder hat das gemacht. Sie selbst mit Sicherheit auch. Denken Sie mal genau darüber nach, ob Sie in Ihrer ganzen Schulkarriere niemals mit anderen Mädchen offen über jemanden gelästert haben.

Tja...
Lehmann: Sehen Sie, es gibt nicht nur den Täter oder das Opfer. In jedem Menschen ist beides vorhanden. So habe ich manchmal Leute in Schutz genommen und sie manchmal gemobbt. Wenn man zurückschaut, entdeckt man beide Anteile, auch in dem Schüler, der man mal war. Das ist normal und geht nicht nur Jugendlichen so, sondern allen Menschen.

Wenn man die Schlagzeilen verfolgt, scheint Gewalt gerade unter Jugendlichen ein großes Thema zu sein. Erst kürzlich war in Berlin ein Video im Umlauf, auf dem Mädchen ein anderes Mädchen verprügelten. Woher kommt das?
Lehmann: Gewalt ist durchaus ein Thema. Aber wir sprechen hier von einer Minderheit. Die meisten Schüler sind absolut friedlich. Die Pubertät ist jedoch grundsätzlich eine schwierige Zeit. Alles spielt verrückt. Der Körper und der Geist werden einem plötzlich fremd. Man fühlt sich von allen unverstanden. Und wenn jemand dann noch sagt, du hast eine große Nase, nimmt ein 14-Jähriger das viel schwerer als jemand in meinem Alter.

Sie sind seit neun Jahren Sozialarbeiter an der Jüterboger Wiesenoberschule. Es heißt ja, es wird immer schlimmer mit den jungen Leuten. Hat die Gewaltbereitschaft zugenommen?
Lehmann: Nein. Wir hatten durchaus eine wilde Zeit hier. Fünf Jahre ist das her oder noch länger. Da ging es zwischen den Schülern ordentlich zur Sache. Einmal sind zwei Mädchen aufeinander losgegangen. Jemand hatte falsche Gerüchte gestreut und behauptet, die eine wolle der anderen den Freund ausspannen. Die vermeintlich Gehörnte hatte einen Blackout und kam mit einem Messer in die Schule. Zum Glück hat ein Schüler eingegriffen und ihr das Messer aus dem Rucksack geklaut. Am Ende ging alles glimpflich aus. So etwas hatten wir aber schon sehr lange nicht mehr. Die physische Gewalt unter den Schülern hat abgenommen.

Weil sie tatsächlich friedlicher geworden sind?
Lehmann: Das wäre schön, ist aber nicht so. Die Gewalt hat sich nur verlagert. Wir haben den Fortschritt und wir haben die neuen Medien. Das bedeutet, dass die psychische Gewalt nicht in den Pausen passiert, sondern über das Internet. Das ist besorgniserregend. Wir müssen auch darauf reagieren. Es gibt eben nicht nur jene Gewalt, die wir sehen. Es ist wie bei einem Eisberg, wir nehmen nur die Spitze war. Das Rest passiert unter der Oberfläche.

Was bedeutet das für Jugendliche?
Lehmann: Dass man sie schwerer beschützen kann. Schließlich hat jeder ein Handy. Früher haben sie sich geschlagen, jetzt beleidigen sie sich im Internet, posten Fotos voneinander und drohen sich online und nicht auf dem Schulflur. Und weil das Netz offen ist und sich auch Unbekannte an den Diskussionen beteiligen, fühlen sich die Kinder gleich doppelt bedroht. Neulich hatten welche Angst, dass ihnen eine Gruppe aus München auflauern könnte, egal wie absurd das ist. Das Internet gehört zu ihrer Lebenswirklichkeit, sie können das von der realen Welt nicht immer trennen.

Was kann man dagegen tun?
Lehmann: Man kann mit ihnen reden, das machen wir schon sehr ausgiebig in Projekten. Man kann sie über ihre Rechte und Pflichten informieren. Jemanden im Internet zu mobben, ist eine Straftat. Das teilen wir ihnen mit. Als es noch um physische Gewalt ging, haben wir eine Schulkultur erarbeitet. Eine Art Gesetz, in dem es um Toleranz und um den Umgang miteinander geht. So haben wir in der Schule angefangen, uns mit Normen und Werten auseinanderzusetzen. Eine Essenz war: Null Toleranz bei Gewalt! Alle müssen hingucken und einschreiten. Wir müssen dies den Schülern vorleben und zeigen, dass man Gewalt nicht akzeptieren muss. Das ist mit psychischer Gewalt genauso.

Wie kommt es überhaupt dazu? Warum mobbt ein Kind ein anderes Kind?
Lehmann: Wir müssen Sachen eben aushandeln. Dabei geht es viel um Gefühle. Es geht darum, dass jemand einem anderen etwas weggenommen hat oder dass man sich rächen will. Häufig geht es einfach nur um Liebe. Liebeskummer und Eifersucht sind große Themen. Häufig ist auch hier nicht klar, wer Täter und wer Opfer ist.

Konflikte kann man aber auch anders aushandeln, man muss dem anderen nicht weh tun.
Lehmann: Klar. Aber die Kinder sind nicht böse. Häufig fehlen ihnen nur Alternativen, einen Streit auszufechten. Wenn die Eltern bei Konflikten zu Gewalt neigen, lernt das Kind, auch nicht anders damit umzugehen.

Also sind alle verantwortlich.
Lehmann: Auf jeden Fall! Letztendlich sind wir Erwachsenen diejenigen, die diese Gesellschaft formen und den Kindern gewisse Modelle vorleben.

Interview: Marion Schulz
Quelle: MAZ, Dahmeland-Fläming v. 27.01.2014

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